Nachdem wir im ersten Teil unserer Serie zu Digitalisierungschancen den Markt aus der Vogelperspektive betrachtet haben, landen wir nun auf der Produktebene. Ausgehend von der Definition eines digitalen Versicherungsprodukts lesen Sie hier, welche Kriterien das Digitalisierungspotenzial eines konkreten Produkts bestimmen. Im nächsten Teil werden wir dann anhand ausgewählter gewerbliche Produkte wie D&O-, Gebäude- und Transportversicherungen konkrete Herausforderungen der Digitalisierung dieser Produkte analysieren.

Gerne zitiere ich meinen Kollegen Marc-Philipp Gösswein: “Es war noch nie spannender als heute, für Industrieversicherer und Makler zu arbeiten!” Denn im Zuge der digitalen Transformation sind die etablierten Assekuranzen gefordert, ihr Geschäftsmodell zu überdenken und neue Wege einzuschlagen. Dabei stehen sie zum einen vor der Aufgabe, einen digitalen Zugang auf einen hoch dynamischen Markt zu besetzen. Zum anderen müssen sie das eigene Portfolio digitalisieren, um ihre Produkte in einem Online-Distributionskanal anzubieten.

Aus diesen Anforderungen ergibt sich die Marschroute, sprich die Digitalisierungsstrategie. Zudem sind dadurch zwei komplementäre Handlungsfelder innerhalb des Transformationsprozesses – Markt und Produkt –  klar definiert. Spannend finde ich daher die Frage, welche Schritte eine Assekuranz auf diesen Ebenen unternimmt, um ihre Strategie umzusetzen. Auf der Produktebene geht es darum, die eigenen Versicherungsangebote nach bestimmte Kriterien zu standardisieren, um sie digital abbilden zu können. Operativ heißt das für Versicherer oder deren IT-Dienstleister, dass sie Daten und Regeln zur Beurteilung von versicherungstechnischen Risiken in eine digitale Form überführen müssen, um diese Informationen zu strukturieren und für EDV-Systeme les- und interpretierbar zu machen.

Definition: Was ist ein digitales Produkt?

Doch wie definieren wir überhaupt ein digitales Produkt? Wieder folge ich meinem Kollegen:

„Ein digitales Produkt zeichnet sich durch einen standardisierten Satz von Bedingungen aus, die den Produktkern spezifizieren. Zudem muss es ein Deckungsmodell enthalten, in dem das versicherte Interesse und die für die Risikobewertung erforderlichen Informationen beschrieben sind. Dieses inkludierte Underwriting-Modell enthält Regeln zur Ableitung der Tarifierung und anwendbare Klauseln – etwa für bestimmte Branchen.“

Aus dieser Definition ist leicht zu schließen, wie wichtig die zu erfassenden Informationen für die Risikobewertung sind. Dies gilt im Falle der Beurteilung durch einen Underwriter genauso wie für die Risikoentscheidung, die ein System treffen soll. Mit ihren Entscheidungen tragen die Underwriter zum versicherungstechnischen Ergebnis ihres Arbeitgebers bei. Auf ihre Fachkenntnis also vertraut der Versicherer. In Bezug auf das Risikomodell des Produkts lautet die Millionenfrage daher: Wie digitalisieren wir eine Versicherung so, dass die Entscheidung des Systems für so glaubwürdig gehalten wird wie die des Experten? Und wie können die Entscheidungsregeln sogar noch verbessert werden?

Ziel: Versicherungsprodukte digital abbilden.
Kernaufgabe bei der Digitalisierung: Industrieversicherer müssen Daten und Regeln zur Beurteilung von versicherungstechnischen Risiken in eine digitale Form überführen.

Bezogen auf die Marktperspektive stellt sich die Frage, welchen Aufwand ein Vertriebspartner auf sich nehmen will, um bei der Risikoerfassung auf digitalem Weg mitzuwirken.

Produkte digital abbilden: Risikoentscheidung im Fokus

Die Millionenfrage: Wie digitalisieren wir eine Versicherung so, dass die Entscheidung des Systems für so glaubwürdig gehalten wird wie die des Experten?

Ausgehend von diesen Fragen können wir folgende Kriterien festlegen, die das Digitalisierungspotenzial eines Produkts im Marktkontext bestimmen:

  • Risikoanalyse unter maßvollem Ressourceneinsatz: Steht der Zeitaufwand einer digitalen Risikoerfassung für den Vertriebspartner in einem aus seiner Sicht passenden Verhältnis zum Nutzen? So wäre zum Beispiel die unmittelbare Angebots- und Policenerstellung ein großer Vorteil, der sich aus einer digital abgebildeten Risikoanalyse ergibt.
  • Vertrauensvolle Risikoentscheidung: Kann aufgrund der erfassten und ggf. angereicherten Information eine Risikoentscheidung getroffen werden, der das Versicherungsunternehmen so viel Vertrauen beimisst, dass eine systemgetragene Entscheidung als qualitatives Äquivalent zu einer individuellen Beurteilung durch einen Underwriter akzeptiert wird? Dazu muss die relevante Information so strukturiert werden, dass es möglich ist, daraus regelbasierte Entscheidungen zu treffen. Ferner muss die benötigte Information objektiv abbildbar sein können, das heißt, es sollte keine Abhängigkeit von der subjektiven Einschätzung des Erfassenden bestehen.
  • Wettbewerbsfähige Preisbestimmung: Ist eine wettbewerbsfähige Preisgestaltung möglich, indem Prozesse automatisiert werden? Kostenvorteile, die sich auf die Preisfindung auswirken können, sind vor allem dann realisierbar, wenn die Entscheidungs- und Dokumentenerstellungsprozesse automatisiert laufen. Das heißt, eine regelmäßige zusätzliche Beurteilung der erfassten Informationen durch einen Underwriter oder anderer administrative Mitarbeiter ist nicht nötig. Je intensiver der Wettbewerb in Bezug auf ein konkretes Produkt ist, desto preissensibler wird der Vertriebspartner reagieren.

Auf Basis dieser Aspekte werden wir im folgenden Teil ausgewählte gewerbliche Versicherungsprodukte betrachten und analysieren, worin konkrete Herausforderungen der Digitalisierung bestehen können.

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